Historischer Überblick
Die Kirche St. Michael wurde 1220 erbaut und bereits 1288 zur Pfarrkirche erhoben. Sie liegt an einem der schönsten Plätze Wiens und zählt zu den ältesten und interessantesten Kirchen Wiens. Bis 1784 wurde sie als Hofpfarrkirche geführt. Heute ist sie Pfarr- und Klosterkirche der Salvatorianer.
Neben St. Stephan und der Schottenkirche wird St. Michael ab 1288 als eine der drei Stadtpfarrkirchen genannt, zu der bis zur josephinischen Pfarrreform 1782 unter anderem die Ortsteile Mariahilf, Fünfhaus, Sechshaus sowie Währing zählten.
Romanische Anfänge
Der Ursprung der Michaelerkirche lag lange im Dunkel. Eine mit 1221 datierte Gründungsurkunde, 1772 erstmals veröffentlicht, wurde von Oskar von Mitis als Fälschung erkannt. Möglicherweise entstand sie im 18. Jahrhundert im Streit mit der benachbarten Burgpfarre, um ihren Vorrang zu beweisen. 1953 kam Alois Kieslinger nach umfangreichen baustofflichen Untersuchungen zu dem Ergebnis, dass die einheitliche Entstehung der spätromanischen Michaelerkirche erwiesen ist: alle Steine der Friese tragen die gleichen Steinmetzzeichen.
Damit hat die Michaelerkirche den einzigen und größten erhaltenen spätromanischen Baubestand in Wien. Die 1951 erfolgte Entdeckung des reich gegliederten Bogens des Westportals sowie die 1982/83 durchgeführte Freilegung des Nordportals im Querschiff und der „porta laterale“ hinter dem ehemaligen Allerseelenaltar 1987/88 bestätigen den Baubeginn der Kirche um 1220. Die drei spätromanischen Tore mit zwei erhaltenen Tympana (Tympanon = Giebelfeld über dem Türsturz) sind fallweise bei Sonderführungen zu besichtigen.
Ein am 25. Juni 1288 ausgestellter Ablassbrief zugunsten des Wiederaufbaus der Michaelerkirche ist die älteste Urkunde des Michaeler Kollegsarchivs. Ein Ablass bewirkt den Nachlass der zeitlichen Sündenstrafen unter bestimmten Bedingungen.
Gotische Bauphasen
Am 23. März 1327 brannte der Michaeler Glockenturm aus, dabei schmolzen drei Glocken. Die Wiener Bürgerschaft und Herzog Albrecht II. (1330-1358) brachten die Mittel zur Restaurierung auf.
1350 leistete der herzogliche Küchenmeister Stiborius Chrezzel eine großzügige Stiftung zum Bau des südlichen gotischen Nebenchores, der heutigen Kreuzkapelle, aus Dank, dass er von der gegen ihn vorgebrachten Anklage des versuchten Giftmordes an seinem Herrn Albrecht II. freigesprochen worden war.
Am 5. April 1416 weihte Georg von Hohenlohe, Bischof von Passau, die Kirche nach Errichtung des gotischen Hauptchores neu ein; wenig später entstand der nördliche Nebenchor.
Barock und Klassizismus
Bis 1626 wurde das Vermögen der Kirche von einem städtischen Kirchmeister verwaltet. Kaiser Ferdinand II. entzog St. Michael dem Einfluss des protestantisch gesinnten Stadtrates und übergab Kirche und Pfarre am 4. Mai 1626 den aus Mailand herbeigerufenen Barnabiten. Durch Kardinal Melchior Khlesl erfolgte am 16. Mai die Übertragung an die Barnabiten, die neue Baugedanken aus dem Süden brachten und von 1633 bis 1636 einen Großteil der gotischen Inneneinrichtung entfernten.
Eine der ersten Änderungen war der Abriss des seit 1419 nachweisbaren Lettners, der die drei Ostabschlüsse der Kirche vom Querhaus trennte. Von den zu Beginn des 16. Jahrhunderts gezählten 21 Altären gab es jetzt nur mehr 12. Die treibende Kraft der Barockisierung war Pater Don Florentius Schilling. Er war Prediger in Rom und Neapel und wurde 1634 nach Wien entsandt. Pater Schilling wurde zum bedeutendsten Prediger Wiens. St. Michael verdankt ihm vor allem die Umgestaltung der Vesperbildkapelle zu einem frühbarocken Juwel.
1724/25 erhielt die zum Michaeler Platz gerichtete Westfassade einen Portalvorbau. Die Giebelfiguren stellen den Engelssturz dar. 1781/82 wurde der Hochaltar aufgestellt und dabei auch der Chor neu gestaltet. Nachdem bereits 1792 die Westfassade klassizistisch verkleidet worden war, entstanden im Kircheninneren zur Zweihundertjahrfeier (1826) der Barnabiten in Österreich auch Altäre im Klassizismus.
Zur jüngeren Geschichte
Nach nahezu 300-jähriger Tätigkeit in Österreich übergaben die Barnabiten 1923 die Verwaltung ihres Besitzes den Salvatorianern. Die Pfarre St. Michael wurde mit Wirkung vom 1. Jänner 1926 aufgelassen, ihr Sprengel auf die Nachbarpfarren St. Augustin, St. Peter und die Schotten aufgeteilt. Unter dem ersten Salvatorianischen Pfarrer, dem Provinzial Pater Theophilus Muth, kam wieder neues Leben nach St. Michael; einige Denkmäler fanden zur Erinnerung an die Habsburgermonarchie hier eine Heimstätte. Mit Beschluss vom 30. Jänner 1938 wurde die Pfarre St. Michael durch Kardinal Innitzer am 1. Februar 1939 wiedererrichtet. 1976 erhielt sie Teile der vollständig aufgelassenen Pfarre St. Peter zugeteilt.
2003 wurde der ehemalige Allerseelenaltar ins Kloster übertragen, wodurch eines der romanischen Tore für den Kirchenbesucher zugänglich gemacht wurde. 2006 erfolgte die Restaurierung der großen Michaeler Glocke von 1525, die 1992 gesprungen war und seitdem vor der Kirche stand. Am 5. Dezember 2006 läutete sie unter großer Teilnahme der Bevölkerung Mozarts Todestag ein. Auch die barocke Turmuhr von 1765 konnte saniert und wieder funktionsfähig gemacht werden. Für das Osterfest 2007 wurde die Turmratsche von 1901 wieder in Betrieb genommen.
Zur Stil- und Baugeschichte
Die Michaelerkirche gehört der Spätromanik und Frühgotik an. Diese Epochen erreichten im Donauraum in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts ihren Höhepunkt. Unter dem Babenberger Herzog Leopold VI. (1198-1230) wurden erstmals Bauformen der französischen Kathedralgotik nach Österreich gebracht und führten zum Entstehen der herzoglichen Stiftungsbauten.
Auch die Zisterzienser wirkten bei der Vermittlung gotischer Stilelemente mit. Querrechteckige Gewölbejoche und Kelchknospenkapitelle fanden rasch Eingang in den heimischen Bauhütten. Unter Kaiser Friedrich II. (1212-1250), der in Sizilien geboren und aufgewachsen war, feierte dieser Stil eine Wiedergeburt.
Spätromanik 1220-1250
Diese Entwicklung fand in der Michaelerkirche ihren Niederschlag. Die Vierungspfeiler sowie die Kapitelle besitzen Übereinstimmungen mit dem 1217 vollendeten Querschiff der Klosterkirche in Lilienfeld. 1982 wurde ein weiteres spätromanisches Portal (Nordportal im Querschiff) freigelegt.
Auf römischen und frühmittelalterlichen Ruinen wurde das dreischiffige Langhaus mit vorgebautem Querhaus und Chorquadrat mit Dreiapsidenabschluss nach Osten errichtet.
Frühgotik 1250-1300
Beim Wiederaufbau nach dem Brand von 1276 kamen vermehrt frühgotische Elemente in verstärktem Maß zum Durchbruch. Der Bau des Südwestturmes erfolgte über einer quadratischen Grundfläche.
Gotik 1300-1525
Nach dem Turmbrand von 1327 wurde auf dem Rest des viereckigen Turmes ein achteckiger mit drei Geschoßen aufgebaut. Die steinerne Turmspitze war mit Krabben geziert, wie die Ansichten Wiens von Hirschvogel 1547 und Lautensack 1558 zeigen. Die Neugestaltung der Kirche vollzog sich im Ostteil in folgenden Phasen: um 1340 Chorquadrat, um 1350/55 Kreuzkapelle (südlicher Nebenchor), 1404-1416 Hauptchor, um 1430 Werdenbergkapelle (nördlicher Nebenchor). Auf die Zeit der Gotik gehen auch die später unterteilten Zubauten an der Nordseite (Lukaskapelle, 1428) und an der Südseite (Sakristei vor 1379, Annakapelle vor 1484) zurück. Der große Stadtbrand vom Juli 1525 fügte der Kirche starke Schäden zu. Bis 1527 aber war sie größtenteils wiederhergestellt.
Renaissance 1590-1625/26
Nach dem Erdbeben vom 15. September 1590, bei dem die steinerne Turmspitze einstürzte, erhöhte der Steinmetzmeister Balthasar Burckhaußer den Turm von der Galerie weg um zwei Geschoße. Der Kupferschmied Hans Sulzer gab dem Turmhelm die heutige, überaus spitze Form. Außerdem wurde das Mittelschiff auf die gleiche Höhe des Ostchores gebracht, wodurch die Kirche ihren heutigen Dachstuhl erhielt.
Barock 1626-1725
Mit der Übergabe der Kirche an die Barnabiten begann für St. Michael das Barockzeitalter: 1627/29 Umbau des Nordchores (Werdenbergkapelle), 1633-1636 Abbruch des Lettners und Entfernung der meisten mittelalterlichen Altäre, 1637-1639 Umgestaltung des Zubaues an der Südseite der Kirche in drei Kapellen. Prunkvolle Ausstattung der Vesperbildkapelle, in die 1641 die gotische Pietà (1435/45) übertragen wurde. 1659 Unterteilung der früheren Lukaskapelle an der Nordseite. 1724/25 Portalvorbau an der Westfassade.
Klassizismus 1781-1826
Die Errichtung eines neuen Hochaltars 1781/82 bedingte die Umgestaltung des gotischen Hauptchores – das früheste Beispiel einer Regotisierung im Sinne einer Rokokogotik in Wien. 1791/92 wurde die Westfassade verblendet und aus Anlass der Gedenkfeier „200 Jahre Barnabiten in Wien“ erfolgten Neuerrichtungen und Angleichungen mehrerer Seitenaltäre im Klassizismus.
20. Jahrhundert
1935/36 wurde die spätromanische Turmkapelle restauriert und eine stilisierte Lourdesgrotte eingebaut. In einigen Seitenkapellen erfolgte die Aufstellung verschiedener Denkmäler: 1928 Kaiser Karl I., 1931 österreichische Marine, 1932 Landwehr-Offiziere. Eine umfangreiche Innenrestaurierung in den Jahren 1972/74 führte zur Freilegung von Fresken des 14. Jahrhunderts und brachte neue Erkenntnisse über die Wiener Wandmalerei dieser Zeit. 1972 wurde die Kreuzkapelle regotisiert. Im Hauptschiff ersetzen seit diesen Tagen moderne Thonetstühle die barocken Kirchenbänke.
21. Jahrhundert
2004 Beginn der Gesamtsanierung der unter der Kirche gelegenen Gruftanlage. Die Restaurierung der Glocke von 1525 und des Glockenstuhles erfolgten 2006, ebenso die aufwändige Wiederherstellung der gesamten Vesperbildkapelle. Die Restaurierung der Sakristei wurde zum Pfingstfest 2008 abgeschlossen.
Der Text ist veröffentlicht im Kirchenführer, Kath. Pfarramt St. Michael (Hrsg.), Michaeler Kirche Wien, Wien 2008