Die fast dreihundert Jahre alte Orgel des Orgelbauers Johann David Sieber ist ein Meisterwerk barocker Orgelbaukunst. Sie wurde nach einem klugen Konzept mit 40 Registern auf drei Manualwerken und einem Pedalwerk gebaut. Faszinierend war neben der Größe des Orgelwerkes vor allem die Neuartigkeit der Aufstellung:
Zwei große gleich geartete Orgelgehäuse entlang der Nord- und Südwand der Empore flankieren einen ca. 30m2 großen Freiraum, der ausreichend Platz bot für Chor und Orchester mittlerer Besetzung. Sie enthalten Haupt- und Pedalwerk nach C- und Cis-Seite getrennt. Der in geringem Abstand zu einem Rückpositiv (Untermanual) platzierte Spieltisch enthielt als drittes Manualwerk ein Continuo-Positiv mit vier Registern.
Die Gehäuse wurden nach kunstvollem Entwurf und in den Maßen zum zweiten Joch der Kirche passend angefertigt. Auffallend sind die gute Tischler- und Bildhauerarbeit und die Solidität des Materials. Man begann z. B. für jedes Gehäuse auf der Dielung mit einem Bodenrahmen aus Balken. Darauf ruht eine Zarge, die aus 4 cm breiten und 5 cm dicken Bohlen zusammengezinkt wurde. Dahinein wurden die Zapfen einer Rahmenkonstruktion für ein Unterteil gearbeitet, welches so stabil ist, dass es Oberteil und Orgelwerk tragen kann. Die Gehäuse sind mit geschmiedeten Ankern am Mauerwerk befestigt.
Das Gehäusematerial ist Fichtenholz, welches geflößt zu sein scheint, da es keinerlei Holzwurmbefall zeigt. Die geschnitzten Ornamente sind aus Kienholz gefertigt. Die sechs Windladen bestehen im Wesentlichen aus Eiche, Pfeifenstöcke und Raster aus Pappelholz. Das Innenwerk der beiden großen Orgelgehäuse besteht aus 18 Hauptwerkregistern und den neuen Pedalregistern, die auf vier Windladen Platz finden. Im Innern der beiden Gehäuseoberteile beeindruckt nicht nur die Vielzahl der Pfeifen, sondern spontan auch die sorgfältig geplante Ordnung ihrer Aufstellung. Obwohl die Grundflächen der beiden Gehäuse in den Abmessungen eher bescheiden sind, kann man als Orgelbauer alle Pfeifen gut erreichen. Diese Tatsache ist umso bemerkenswerter, als das Hauptwerk allein sechs Achtfuß lange Register enthält. Im Vergleich ungewöhnlich ist auch die konsequente einreihige Aufstellung der Hauptwerksregister. Um das zu erreichen, musste man für jede Pfeife einen kleinen Kanal in den Pfeifenstock einstemmen. Daraus ergaben sich für die 2! (wegen der drei mehrchörigen Register) Pfeifenreihen der Hauptwerkswindladen ausreichende Zwischenräume und die oben erwähnte gute Zugänglichkeit.
Auf den Pedalwindladen finden wir das umgekehrte Prinzip: Die Pedalpfeifen sind – einem Puzzlespiel vergleichbar – dicht an dicht aufgestellt. Dies ist enorm platz sparend und wiederum sinnvoll, da große Baßpfeifen praktisch keiner Nachstimmung bedürften. Mit der einreihigen Aufstellung der Bombarde zusammen mit der Trompete auf einem Pfeifenstock ist eine dritte Besonderheit bei der Pfeifenaufstellung anzutreffen. Geringer Platzverbrauch und für das Nachstimmen eine leichte Zugänglichkeit sind damit erreicht worden.
Im Zusammenhang mit der Sorgfalt in Siebers Planung ist auch seine Beschriftung zu nennen: Noch heute sehen wir auf den Rasterbrettern mit Tusche elegant und deutlich aufgeschrieben die Tonbuchstaben und die Registernamen, sowie die Nummerierung der Register. Diese Ziffern sind auch als feine Gravuren auf jeder der alten Metallpfeifen zu finden. Desgleichen wurden auch die Registernamen in die jeweils größte Pfeife eingeritzt. Als positive Folge dieser sorgsamen Maßnahmen Siebers konnte bei der Restaurierung nicht nur jede alte Pfeife ihren angestammten Platz zurückbekommen, sondern es war auch möglich, die Zusammensetzung der ungewüöhnlichen Mixturen zu identifizieren.
Das Pfeifenwerk Siebers verdient besondere Beachtung. Von den 32 erhaltenen alten Registern stammen wahrscheinlich 30 aus seiner Werkstatt: Die beiden Metallregister des Spieltischpositivs sind etwas jüngeren Datums. Diese sind auch die einzigen Metallregister, die eine historische Besonderheit nicht aufweisen: Fast alle Sieberpfeifen haben Verlängerungsringe aus frühester Zeit. Aus der Gleichartigkeit des Metalls und der Lötnähte kann man schließen, dass die Verlängerungen durch Siebers Werkstatt angebracht wurden. Die Aufwendigkeit dieser Maßnahme – immerhin wurden ca. 2000 Pfeifen um etwa einen Halbton verlängert – lässt vermuten, dass die Tonhöhe für die damals in St. Michael verwendeten Blasinstrumente zu hoch war.
Das von Sieber verwendete Pfeifenmetall hatte eine Legierung von 37% Zinn bei 63% Blei. Diese Legierung ergab sich aus dem Zusammenschmelzen von 1000 Pfund Blei mit 600 Pfund Zinn. Die Pfeifen sind von besonders guter Qualität der Verarbeitung. Siebers Mensuration des gesamten Pfeifenwerkes in Verbindung mit seiner Intonationskunst lassen den im Bau großer Orgeln erfahrenen Meister erkennen.
Möchte man den Versuch unternehmen, etwas Charakteristisches vom Klang dieser Orgel in Worte zu fassen, so kann man zunächst den freundlichen, sanften und hellen Klang der Metallpfeifen nennen. Das gilt sowohl für die Prinzipale, als auch für die Streicher und die Flöten. Der Klang der Plena, die sich – wie beim italienischen Ripieno – durch Kombination der einzelnen Prinzipalreihen bis hinauf zum 1′ aufbauen lassen, ist eher farbig-zinnern zu nennen als vokal und scharf, wie man ihn vorwiegend in nördlicheren Gegenden antrifft.
Die Cymbeln – auch die Rückpositiv-Mixtur gehört dazu – sind wegen ihrer hohen Zusammensetzung für ein Plenum ungeeignet. Für solistischen Gebrauch zusammen mit Flöten und Aliquoten ergeben diese Register den gleichen Effekt wie die bekannten norddeutschen Cymbeln. Die Flötenregister, besonders die drei hölzernen, sind in ihrer klanglichen Wirkung als lebendig, farbig und füllig zu nennen. Der Klang der Bombarde ist deutlich und kräftig, der der Trompete ist hell, jedoch nicht blechern.
Trotz der offensichtlichen Genialität der Orgelanlage wurde im Jahr 1742, nur 28 Jahre nach dem Bau, eine Umorientierung vorgenommen: Das Rückpositiv wurde aus der Brüstung entfernt. Sein Pfeifenwerk zu beiden Seiten der Hauptwerkswindladen in Gehäuseanbauten minderer Qualität untergebracht, und zwar unter Verwendung der in zwei Teile zersägten Windlade. Es entstand eine Art Hinterwerk. Der Mechanik wegen wurde auch der Spieltisch herumgedreht und weiter nach hinten versetzt. Hauptwerk und Pedal verblieben an den angestammten Plätzen.
Der damalige Umbau – von Gottfried Sonnholz ausgeführt – hatte erhebliche Nachteile: Die Verlegung des Spieltisches nach rückwärts machte eine Neuanlage der Trakturen nötig. Das zu einem Hinterwerk degradierte ehemalige Rückpositiv bekam dann eine ähnlich ungünstige weitläufige Traktur, wie das Hauptwerk sie bereits besaß. Seit damals scheint die Mechanik reparaturanfällig gewesen zu sein.
Mit diesen Maßnahmen opferte man nicht nur die klangliche Präsenz des Rückpositivs als des wichtigsten Solowerkes, sondern auch die sensible Bespielbarkeit, die sich aus der kurzen, leichtgehenden Mechankik und aus der kurzen Schall-Laufzeit zum Ohr des Organisten ergab. Außerdem verlor der Organist durch die Drehung des Spieltisches die Möglichkeit, von dort aus bei Bedarf die Figuralmusik selber zu leiten.
Sicherlich gab es auch gute Gründe, die zu der Entscheidung geführt haben mögen. Zum Beispiel entfiel das Rückpositiv-Gehäuse als ein erheblich akustisches Hindernis für die Präsenz von Chor- und Orchestermusik.
Im 19. Jahrhundert fielen einige wichtige Register dem Modernisierungsbestreben der Zeit zum Opfer. Auch die alte Balgenanlage ging verloren. Eine bedeutende Reduzierung des Pfeifenbestandes geschah im Ersten Weltkrieg durch die Abgabe der gesamten Prospektpfeifen. Da diese Pfeifen einen wesentlichen Anteil am Orgelklang haben, war das ein besonders schmerzlicher Verlust.
Schließlich machte der desolate allgemeine Zustand der Orgel eine Restaurierung notwendig. Es wurde der Plan gefasst, die ursprüngliche Werkkonzeption zurück zu gewinnen, nämlich das Hinterwerk wieder zum Rückpositiv werden zu lassen. Die Restaurierung begann mit dem Ausbau des Orgelwerkes im Jahr 1972. In der Folgezeit sorgten Tischler und Bildhauer für ein neues Rückpositiv-Gehäuse in leidlicher Anpassung an die Vorbilder. Das Orgelwerk selbst wurde leider unkundigen Händen anvertraut. Es geriet in eine ernsthafte Krise, da man vor allem Sieber’sches Pfeifenwerk fast irreparabel veränderte. Für das Zurückgewinnen der Sieber-Orgel aus diesem beklagenswerten Tiefstand waren alle erdenklichen Anstrengungen notwendig: Fotografische Aufnahmen, technische Messungen am Ort und an Sieber-Orgeln in der ČSSR und Zeichnungen gehörten zu den Vorbereitungen. Das Bundesdenkmalamt sorgte für die Reproduktion von alten Fotos, die beim Abbau der Orgel im Jahr 1972 glücklicherweise aufgenommen worden waren, veranlasste metallurgische Untersuchungen von Pfeifenmaterial und gab auch sonst jede Unterstützung.
Die eigentlichen Restaurierungsarbeiten nahmen eine zehnköpfige, im Restaurieren erfahrene Arbeitsgruppe fast ein Jahr lang voll in Anspruch. Die Intonationsarbeiten – vom Unterzeichner selbst ausgeführt – wurden im August dieses Jahres abgeschlossen.
Dieser Text ist veröffentlicht in Pfarramt St. Michael (Hrsg.), Sieberorgel in der Michaelerkirche, Wien 1, Wien 1988